Nicht endende Alleen

06.00 Uhr morgens, ich habe nicht besonders gut geschlafen in der letzten Nacht, und ich frage mich, woran das liegt? Könnte es die unterschwellige Aufregung über die bevorstehende Reise sein? Oder ist doch der Hirtenspieß von gestern Abend daran schuld? Nein, letzteres kann ich mir nicht vorstellen. Die Qualität der Speisen in Osteuropa ist eine andere. Nicht besser oder schlechter, einfach anders. Einfach, zuweilen recht fetthaltig, aber interessant deshalb, weil für die Zubereitung der Speisen Lebensmittel aus der heimischen Produktion zum Einsatz kommen. Das erscheint vielleicht fremd, angesichts unseres Speisenplans. Ich aber empfinde es als durchweg angenehm. Vor einigen Monaten hatte ich so zum Beispiel ein köstliches Mahl. Und zwar auf der Halbinsel Hel nördlich von Danzig. Ich bin nun wahrlich kein Fischfreund, aber in dem kleinen Örtchen Kuznica sahen die Heringe derart delikat aus, dass sich nicht wiederstehen konnte. Ich wurde nicht enttäuscht.Wildrich Weltreise Pelplin

Noch liege ich in meinen warmen Bett unter dem Kirchendach, und gerade hat mich Glockengeläut geweckt. Durch mein Dachfenster hinaus kann ich erkennen, dass der Himmel komplett blau ist. Kein Wölkchen weit und breit. Es wird ein schöner Tag.

Wie ich so da liege und nachdenke, fällt mir noch etwas zu gestern ein. Und zwar, das ich immer wieder überrascht bin, wie man mich hier wahrnimmt. Seit Jahren reise ich nun schon durch die Welt. Die letzten acht Jahre waren das im großen und ganzen Besuche in Südostasien. Aber speziell hier, so nahe an der Heimat, ist es doch immer wieder eine Überraschung, so sehr aufzufallen. Das liegt zum einen natürlich an meinem Auto. Aber wenn man zu Fuß geht, überrascht es einen doch, dass die Menschen einen anstarren. Und das, obwohl ich versuche, ein niedriges Profil zu wahren. Ich verzichte auf extravagante Kleidung oder Schmuck, versuche mich ein wenig in die Umgebung einzufügen. In großen Städten gelingt das manchmal auch. Vielleicht ist Pelplin nur zu klein.

Nach einer erfrischenden Dusche habe ich mein Fahrzeug gewartet. Noch eine dieser Angewohnheiten, von denen ich nicht lassen kann. So putze ich jeden morgen vor der Fahrt die Fensterscheiben und überprüfe den Ölstand sowie den Luftfilter. Wieso ich das mache, weiß ich selber nicht so ganz genau. Zumindest den Luftfilter könnte ich mir eigentlich sparen, da ich ja keine Extremtour mache.

Während meines Morgenspaziergangs fallen mir die vielen gelb-weißen Fahnen auf, die überall aus den Fenstern hängen. Ich hatte es ganz vergessen. Der Papst ist im Lande. Zum letzten Mal, wie er selber sagt. Auch das fällt in Polen immer wieder auf. Nämlich, dass der Glaube auch in unseren Breiten ein Teil der Landeskultur sein kann. Die Kirchen sind voll. Junge und alte Gläubige füllen die Messen zu jeder Tageszeit.

Jede ordentliche polnische Stadt hat einen Marktplatz, den Rynek. Eine Institution im öffentlichem Leben. Sehr praktisch, wenn man nach dem Weg fragt und ins Stadtzentrum will. Das Wort Rynek versteht jeder, und es gibt auch meistens einen.

Zu früher Stunde kaufe man sich ein Brötchen beim Bäcker, setze sich auf eine Bank auf dem Rynek und warte. Die Akteure sind stets die gleichen. Auch die Themen des Schauspiels variieren nicht zu sehr. Eine Nonne geht ihres Weges. Der Stadtköter kläfft einen betrunkenen Passanten an. Ein Priester unterhält sich mit einer Ladenbesitzerin. Kinder gehen zur Schule. Die Mädchen der Grundschule tragen Zöpfe, die Jungs den unverkennbaren Borstenschnitt von Mutter! Polen um 07.00 Uhr morgens.

Dies ist ein Kulturland. Durch Kriege immer wieder zerstört und dem Einfluss der Eroberer ausgesetzt, haben manche versucht, den Polen ihre Kultur aufzuzwingen. Ob das gelungen ist, weiß ich nicht, ich bin ja kein Forscher. Aber die Besatzer haben ihre Zeichen hinterlassen. Ich denke, kein anderes europäisches Volk hat so gelitten wie das polnische. Auch heute sind die Zeichen noch stets präsent. Als ich gestern einmal nach dem Weg gefragt habe, deutete man mir auf der Straßenkarte einen „Highway“ den schon die Deutschen gebaut hätten.

Dennoch habe ich nicht das Gefühl unwillkommen zu sein. Im Gegenteil, die Gastfreundschaft ist überschwänglich. Während meines letzten Besuches lernte ich -als ich mal wieder nach dem Weg fragte- einen Polizisten kenne, der Hals über Kopf seine Arbeit vergaß und sich mir als Reiseführer zur Verfügung stellte. Ich habe nicht abgelehnt. Die polnischen Steuerzahler mögen es mir verzeihen.

Die Kontakte sind hier zahlreicher, als das in Deutschland möglich wäre. Es ist leicht mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und doch sind sie nie aufdringlich.

Ich genieße gerade ein einfaches Frühstück im Klosterkeller. Der altbekannte Kawa Normalni, Brot, Butter und Honig. Mehr würde es bei mir zu Hause auch nicht geben. Alles ist in ausreichender Menge da. Über einer zweiten Tasse plane ich mein heutiges Etappenziel. Es soll das winzige Dorf Stanziki  werden. Ob ich es schaffe?Wildrich Weltreise unterwegs auf einer der zahlreichen Alleen

Stanziki ist ein Pflichtprogramm, das ich mir selber auferlegt habe. Früher zu Ostpreußen gehörend, wuchs dort ein sehr guter Freund meiner Familie auf. 1945 geflohen, ist er nie wieder zurückgekehrt. Und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, diese Reise auch für ihn anzutreten. Auf dem heutigen Wege will ich fahren entlang an den Städten Malbork, Elblag, Fromborg über kleine Landstraßen nach Goldap und Stanziki. Wo es -so habe ich dem Internet entnommen- sogar ein Hotel geben soll, obwohl der Ort nur wenige Einwohner hat. Bevor ich mich jetzt allerdings auf den Weg mache, werde ich noch mal die Kathedrale erkunden.

09.20 Uhr unterwegs zwischen Malbork und Elblag. Ich komme gut voran auf dieser Bundesstraße. Schaffe im Schnitt 90 Stundenkilometer. Es ist eine große breite Allee und ab und an komme ich durch kleine Dörfer. Dort bietet sich ein ähnliches Bild wie auch schon gestern. Geschäftiges Treiben, die Menschen sind unterwegs zum Einkaufen, zur Kirche  oder der Arbeit.

Ich nehme mir keine Zeit, um Malbork zu besichtigen. Wenn man so ausgedehnte Touren wie diese fährt, muss man Prioritäten setzten. Und ich bin froh, gestern auf eine kleine Stadt ausgewichen zu sein. Ich bin nun einfach kein Großstadtmensch.

Unterwegs am frühen Vormittag hätte es mich beinahe erwischt. Eine Kolonne von Autos -darunter auch Fiat 126- überholten mich. Ich bin mit 100 km/h auf dieser Allee schon gut unterwegs, aber es gibt auch schnellere. Nicht, dass das in Deutschland nicht auch so wäre, aber da gibt es nicht so viele Bäume rechts und links des Weges. Diese lassen keine größeren Ausweichmanöver zu, sodass ich bei nächster Gelegenheit wieder auf kleinere Landstraßen ausweichen werde, um diesem Risiko zu entgehen. Da ist das Fahren ohnehin wesentlich entspannter.

Die Landschaft wandelt sich nun wieder. Es ist nun ein sumpfiges Gebiet, das ich durchfahre. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich mich der Küste nähere. Genauer gesagt, dem Frischen Haff. In Fromburg will ich eine Pause machen.

Zwischendurch ein Wort zu den hiesigen Tankstellen. Ich fahre einen Diesel. Und diesen Kraftstoff zu bekommen, ist eigentlich nie ein Problem. Im Zweifelsfall helfen da auch schon mal LKW-Fahrer gegen ein wenig Bares weiter. Aber ich sehe auch die Schilder für bleifreies Benzin. Das Tankstellennetz ist wesentlich dichter als in Deutschland. Die Preise bewegen sich unter denen in Deutschland. Und was das Angenehmste ist, die einheimischen Firmen bieten noch Service. Der Tankwart, der bei uns schon längst ausgestorben ist, gehört hier noch zum Straßenbild. Ich versuche die einheimische Wirtschaft zu unterstützen und lasse westliche Mineralöl-Multis links liegen. Soweit ich das beurteilen kann, haben die hiesigen auch keinen schlechteren Sprit zu bieten.

Schade, dass ich kein Kurzwellenradio dabei habe. Ich würde gerne mal wieder Nachrichten hören, um zu erfahren, wie es um das Hochwasser steht.

Ich bilde mir ein, erkennen zu können, dass sich mich von Westeuropa entferne. Zunehmend verwandelt sich die Landschaft. Die gepflegten Dörfer und Städtchen werden nun seltener. Die Umgebung wirkt zuweilen ein wenig rau und naturbelassener als gestern. Auch ist der Zustand der Straße nicht mehr so gut.

Fast schon alltäglich und Routine ist das Interesse der Menschen an meinem PKW. Ich frage mich, ob es einen Unterschied machen würde, wenn ich das Land mit einem anderen Fahrzeug bereisen würde. Meine Ankunft bringt stehts ein Lächeln und Schmunzeln hervor.

Das Meer naht! Man riecht es, ehe man es sieht. Noch nicht 10.00 Uhr morgens und schon 25°C. Ich spiele mit dem Gedanken, einen Pause einzulegen und mich ein Stündchen an den Strand zu legen.

Hier ist alles viel grüner als ich es mir vorgestellt hatte. Nachdem gestern die frisch gemähten Felder bis an den Horizont reichten und das einzige Grün von kleinen Wäldchen oder den Bäumen an der Straße ausging, so kann ich im Moment vor lauter Bäumen den Himmel nicht mehr sehen. Rechts und links entlang der Straße ist der Wald zugewuchert.

Und dann, ganz plötzlich, steht das erste  Pferdefuhrwerk auf dieser Reise vor mir. Alles ist genau so, wie man es sich vorstellt. Das magere, braune Pferd, der Heuwagen, der Kutscher mit Schnauzbart, Hut und Zigarette (er grüßt). In meinem Reiseführer steht, dass dies noch zum Alltag gehört. Aber es ist meine erste Begegnung in Polen. Ich bin schon gut 1000 km unterwegs, und ich frage mich, ob sie nicht vielleicht doch seltener geworden sind.

Die Schönheit dieser Alleen ist einfach überwältigend! Mir fehlen die Worte dafür.

Rund um das Gebiet des Frischen Haffs ist die Landschaft hügelig. Üppige Vegetation wohin man schaut. In den kleinen Tälern zwischen den Hügeln finden sich unzählige Obstgärten. Hier und da ist eine Kuh an einem Strick angebunden und weidet am Straßenrand auf einer Blumenwiese. Alleen und Dörfer wechseln sich ab. Unter den Bäumen muss man mit Licht fahren, so dunkel ist es. Das Grün duftet zum Fenster hinein.

Schade, jetzt bin ich schon in Fromborg. Die letzten Kilometer waren herrlich! Ab und an blitzte die Sonne durch die Bäume

Fromborg ist eines dieser Nester, bei denen ich mich immer frage wie die Menschen wohl überleben können. Natürlich, im Sommer sind es die Touristen, die das Geld bringen. Aber was ist außerhalb der Saison? Früher waren es der Hafen und die Fischer, aber heute?Wildrich Weltreise der kleine Hafen von Fromborg

Die gesamte Infrastruktur ist auf den Tourismus ausgerichtet. Es gibt eine Fähre über das Haff. Im Hafen liegen ein paar Fischkutter. Restaurants und Souvenirgeschäfte prägen das Straßenbild. Ich profitiere von der Moderne und besuche ein -sonst wahrscheinlich nicht vorhandenes- Internetcafe.

Der Wetterbericht bringt gute Nachrichten! Keine Wolken, nur Sonnenschein. Auch mit meiner Familie kommuniziere ich. Welch' Wunder der Technik! Wer hätte das vor 10 Jahren für möglich gehalten?

Dann suche ich noch das Postamt auf und schaue mir das Städtchen an. Auf der Parkbank des Rynek sitzend, belausche ich eine Reisegruppe deutscher Touristen. Dem Vernehmen nach handelt es sich um Ostpreußen oder deren Kinder, die nach vielen Jahren wieder in ihre Heimat bzw. die der Vorfahren reisen.

Die Gespräche sind ein Mischmasch aus fröhlichen Erinnerungen an die Kindheit und Enttäuschung darüber, wie das Land und die Stadt heute aussehen.

Als man meinen PKW entdeckt und mich mit ihm in Verbindung bringt, ist es mit der Anonymität wieder vorbei. Irgendwie hab' ich wohl schon einen SMART-Stempel auf der Stirn.

Ein Bauarbeiter spricht mich auf den Wagen an und lässt mich erst ziehen, als ich ihm mit Handzeichen auch das letzte Detail erklärt habe. Er gab sich mit allen Antworten zufrieden, aber der Preis des SMART's war ihm dann doch zu hoch. Außerdem, so sagte er, sei der Wagen für Polen nicht geeignet, weil es so gut wie keine Singles gäbe. Und familienfreundlich sei er ja nicht gerade.

Von Fromborg soll es nun weitergehen in Richtung Goldap, durch das Gebiet der Masurischen Seen.

Ganz entgegen meiner schlechten Gewohnheit, nicht rechtzeitig zu pausieren, halte ich am nächsten Restaurant! Es ist eine Pizzeria. Heute also mal keine einheimische Kost. Für wenig Geld genieße ich eine sehr gute Salamipizza, sitze auf der Terrasse des Lokals und schaue den Passanten nach. Es ist heiß unter dem Reklamesonnenschirm. Wie viele polnische Restaurants, so ist auch dieses ein Selbstbedienungsrestaurant. Und wie so oft habe ich wieder den Fehler gemacht, mich erst hinzusetzten und auf den Kellner zu warten, der nicht kommen will. Zwei junge Frauen am Nachbartisch gestikulieren in Richtung Tresen, und jetzt versteh' ich.

Kurz hinter Fromborg überquere ich die ehemalige Reichsautobahn 1, die in Richtung Kaliningrad  führt. Ich weiß nicht, ob sie noch befahren wird, ich vermute jedoch das Gegenteil, denn ich sehe kein Fahrzeuge unter mir. Nur ein wenig Unkraut hier und da. Auf der Karte sehe ich dann, dass sie ins Niemandsland führt. Zwischen Polen und Russland hört sie einfach auf.

Ohnehin ist dieses nördliche Gebiet Polens recht spärlich besiedelt. Je näher man der Grenze kommt, desto seltener werden die Dörfer. Ich frage nach und erfahre, dass das noch aus kommunistischen Zeiten her so ist. Die Machthaber hatten Angst vor zu vielen Menschen an der potentiell so problematischen Grenze zum „Bruderstaat“.

So hat man nach 1945 Häuser und sogar ganze Dörfer niedergerissen, um die Grenzen zu „sichern“. Auch wurde das Land hier nicht mehr bewirtschaftet. Mit den Jahrzehnten hat sich so ein Dorado für die Natur entwickelt. Der Wald, den ich jetzt gerade durchfahre, ist zugewuchert. Und ich kann nur erahnen, wie viel Wild es hier geben mag. Ich sehe allerdings keines.

So sehr hat mich die Landschaft gefangen genommen, dass ich gar nicht bemerke, das ich Kraftstoff brauche. Recht schnelle Fahrt entlang der Alleen, ein Durchschnitt von ca. 80 hm/h mit Klimaanlage. 3,75l Diesel auf 100 km.

Die Alleen wollen einfach nicht enden. Das ist auch gut so, denn ich kann mich nicht sattsehen.

Ich bin immer wieder überrascht, wie viele junge Menschen unterwegs sind. Ob das an den Ferien liegt? Mütter mit Anhang gehen einkaufen. Viele Jungs bleiben vor meinem Wagen stehen und zeigen mit dem Finger drauf. Selbst die coolen Halbstarken blicken hochachtungsvoll. Zum Teil werde ich mit Lichthupe begrüßt!

Es geht nun weiter die Allee entlang. Rechts und links der Straße gibt es Wiesen und darauf weiden Kühe. Hier und dort sehe ich Störche. Ich musste 32 Jahre alt werden, um einen Klapperstorch live zu hören! Neben meinem Auto herfliegend, klapperte er laut und deutlich mit dem Schnabel.

Ein Wort zum Verkehr. Es gibt so gut wie keinen, wenn man einmal von den großen Fernstraßen absieht. Auf Nebenstraßen hingegen kommt man sehr gut voran. Ich schaffe ohne weiteres einen Schnitt von 80 Stundenkilometern. Oft gibt es für viele Minuten keinen Gegenverkehr.

In Lidzbark Warminski brauche ich erst mal einen Kaffee. Ich habe noch ca. 300 km Fahrt vor mir und es ist jetzt 14.00 Uhr. Eigentlich wollte ich ja entlang der Masurischen Seen einen Strand finden, um einen Mittagsschlaf zu halten, aber  daraus wird wohl nichts.

Dem aufmerksamen Leser ist sicherlich nicht entgangen, dass ich große Distanzen fahre und viel Zeit in meinem Auto verbringe. Ich bin mal gefragt worden, was ich suche, wenn ich reise. Oder ob ich vielleicht auf der Flucht bin. Ich musste selber erst mal darüber nachdenken. Nun bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es keines von beidem ist. Das Gefühl, unterwegs zu sein, sich zu bewegen, ist es, was ich suche. Einfach nur fahren oder aber zu Fuß durch eine Stadt gehen, die Gegend rechts und links des Weges zu beobachten, das ist es. Ich wünsche keinen Luxus, suche nicht die guten Hotels. Der Weg ist das Ziel. Das hört sich abgedroschen an, stimmt aber trotzdem.Wildrich Weltreise die Ortseingangsstraße nach Stanziki

15.07 Uhr, ich habe nun meine ersten 1000 km Polen hinter mir. 1000 km Alleen, und ich habe gar nicht erwähnt, was es außer Bäumen und Wiesen noch so alles zu sehen gibt. Nun als erstes fällt auf, dass halb Polen mit dem Fahrrad unterwegs ist. Und das, obwohl die Gegend, durch die ich in den letzten zwei Tagen gefahren bin, recht hügelig ist. Außerdem scheint es mir nicht sicher bei den schlechten Sichtverhältnissen unter den Bäumen. Alle paar Kilometer sehe ich Kapellen am Wegesrand. Ausgeschmückt mit Fähnchen oder Plastikblumen. Hinter zugewucherten Blumenvorgärten verbergen sich schmucke kleine Häuschen. Gemütlich sehen sie aus mit den großen Fenstern. Ab und an muss ich scharf bremsen, weil Enten, Hühner oder Gockel die Straße passieren wollen. Andere Hindernisse sind Hunde, Katzen, betrunkene Passanten sowie Kinder, die des öfteren am Wegesrand sitzen oder spielen und im Wald gesammelte Pilze und Blaubeeren verkaufen.

Rechts und links entlang der Straße blitzt die Sonne durch die Bäume. Ein untrügliches Zeichen, ich habe das Gebiet der Masurischen Seen erreicht. Am Straßenrand sehe ich jetzt viele Hinweisschilder: Hotel, Restaurant, Zimmer frei. Landschaftlich ist diese Gegend sehr reizvoll. Romantisch würde ich sagen. Die kurvigen Straßen um die Seen herum führen in kleine Dörfer und Städtchen, für die ich mir leider heute keine Zeit nehmen kann. Denn der See und das Dörfchen, in das ich will, sind noch ca. 100 km entfernt.

Mehr und mehr Radfahrer sind nun unterwegs. Zum Teil schwer bepackt, mit Zelt, Rucksack und Radtaschen. Überhaupt sehe ich viele Camper. Wie es mir scheint, die ideale Art und Weise, dieses Land zu bereisen. Zu Fuß oder per Fahrrad hat man vielleicht eher die nötige Muße und kann diese  einmalige Kulturlandschaft genießen.

Vor etwa einer Dreiviertelstunde, nahe der Stadt Ketrzyn, stand -für mich ganz unvorbereitet- das Schild mit dem Hinweis „Wolfsschanze 500 Meter“ am Wegesrand. Auch dafür nehme ich mir heute keine Zeit. Ich bin überrascht, wie nahe man hier der Vergangenheit ist.

16,50 Uhr, die Abendsonne steht schon recht tief, ich fahre genau Richtung Osten, und nähere mich Goldap auf altem Kopfsteinpflaster. Irgendwie fühle ich mich um eine Stunde betrogen. Hier, an der östlichen Grenze unserer Zeitzone, geht die Sonne schon fast eine Stunde früher unter als in NRW. Die russische Grenze ist nicht weit. In meinem Reiseführer steht, sie sei nur durch Grenzsteine markiert. Es gäbe keinen Zaun. Trotzdem sei es recht unratsam, sie ohne ein gültiges Visum zu überqueren. Ich werde mich davor hüten.

Ich werde versuchen, heute Abend ein Zimmer in Stanziki zu bekommen. Dann habe ich morgen genug Zeit, die Umgebung zu erforschen. Heute bin ich schon 10 Stunden unterwegs. Das Fenster ist offen, der Fahrtwind braust mir um die Ohren, und ich fühle mich fitter als gestern.

Entlang der Straße stehen nun Blockholzhäuser. Sie machen einen fast schon antiken Eindruck. Dunkles Holz, windschief, was sich wohl hinter den Gardinen verbirgt? Blumen und Gänse im Vorgarten. Acker- und Weideland, hier und da ein Bauer mit Sense oder Pferdekarren.

Ich frage mich, wie es hier wohl im Winter aussehen mag. Rau soll die dunkle Jahreszeit sein. In den kleinen Dörfern sehe ich heute viele Storchennester. Ein Teil bewohnt, der andere leer. Aus einem Buch geht hervor, das Meister Adebar um diese Jahreszeit zum Teil schon Richtung Süden zieht.

In Goldap angekommen lande ich im Stadtzentrum, dem Rynek. Der erste gute Eindruck wird sofort gestört. Ich wende mich an einen Einheimischen auf einer Parkbank und frage nach dem besten Weg nach Stanziki.  Er erklärt ihn mir, möchte für die Antwort aber 5 Zloty haben. Ich gebe sie ihm nicht und mache mich auf den Weg durch die Stadt.

In einer zentralen Parkanlage flaniert die Jugend. Um einen Springbrunnen herum sitzen schmusende Pärchen auf den Bänken. Familien mit Kinderwagen genießen  Eis.

Ich sehe fast nur Neubauten. Die Stadt wurde im Krieg vollständig zerstört. Ein hässliches Denkmal am Busbahnhof erinnert an die Heldentaten der kommunistischen Soldaten und dient als Tauben-Landeplatz.Wildrich Weltreise Goldap

Ein erster Eindruck von Goldap muss für heute reichen. Es ist nun schon 17.25 Uhr und ich möchte endlich ein Quartier finden.

Die sehr gut zu befahrene Straße führt entlang brach liegender Felder, auf denen gelbe Blumen blühen. Es sind viele Radfahrer unterwegs. Wahrscheinlich liegt das daran, dass gerade Feierabendzeit ist und die Menschen nach Hause wollen.

Diese Straße ist wunderschön. Lang gezogene Kurven. Sie führt durch kleine Wäldchen. Der Straßenkarte kann ich entnehmen, dass ich in etwa 25 Kilometern rechts abbiegen muss. Gerade wird mir bewusst, dass ich es geschafft habe, ganz Ostpreußen in einem Tag zu durchqueren. Heute morgen war ich noch in Pommern und jetzt befinde ich mich bald in der östlichsten Region der ehemalig deutschen Provinz.

Ich bewege mich jetzt durch die Rominter Heide. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie fast völlig entvölkert, denn die kommunistischen Machthaber wollten so wenig Menschen wie nötig an der -unter Umständen- problematischen Grenze zu den Bruderstaaten haben. Auch die hier wohnenden Polen blicken wehmütig Richtung Osten. So wie es die deutschen Vertriebenen auch tun.Wildrich Weltreise das Viadukt von Stanziki

Und dann, ganz plötzlich, mitten in einer Kurve ein rot-silberner SMART. Damit hätte ich nun nicht gerechnet! In der östlichsten Ecke Polens zwei SMART in einer Kurve. Der Fahrer des andern war wahrscheinlich genau so überrascht wie ich. Es war nur noch Zeit, kurz zu winken. In der Aufregung vergaß ich ganz, nach dem Kennzeichen Ausschau zu halten. Ob es auch ein Tourist war?

Wenngleich die Straße von Goldap kommend, so gut wie nicht befahren wurde, hatte ich doch das Gefühl, dass die 1,5 km von der Hauptstraße bis in den Ortskern von Stanziki viel befahren war. Ich habe 2-3 Mal angehalten, um Fotos zu machen und prompt hatte ich Fahrzeuge und Radfahrer hinter mir. Dieser Ort scheint ein beliebtes Ausflugsziel zu sein. Speziell wegen der beiden Viadukte, auf die ich gerade hinaufsteige. Ich bin gespannt auf die Aussicht, die ich haben werde. Aus meinem Reiseführer geht hervor, dass die Bauwerke insofern besonders sein, als dass die deutschen Ingenieure ganze Baumstämme in den Beton versinken ließen, um die Struktur zu stärken und Stahl zu sparen. Hier und da bröckelt schon ein bisschen Beton, aber im großen und ganzen steht die Struktur ziemlich fest, und macht einen guten Eindruck.. Pferdeäpfel zeugen davon, dass hier auch Reiter unterwegs sind. Wie ich überhaupt während meiner Fahrt durch Ostpreußen viele Pferde auf den Weiden und auch Fuhrwerke gesehen habe.

Nachdem ich nun endlich um 21.15 Uhr im Bett liege, habe ich noch etwas zu erzählen.

Nach einer Rundfahrt durch das Dorf und nach dem ich einige Fotos gemacht habe, bin ich im einzigen Gasthof des Dorfes eingekehrt. Ich fand es überhaupt ein Wunder, dass ein solch kleines Dorf einen Gasthof hat. Man sagte mir seitens der Bedienung im Restaurant, es gäbe nur ca. 30 Einwohner in Stanziki. Den Gasthof gäbe es deshalb, weil die beiden Viadukte ein beliebtes Ausflugsziel seien. Und tatsächlich, bei meinem Spaziergang habe ich viele Menschen gesehen.Wildrich Weltreise Ortseingang Stanziki

Jetzt, nachdem ich mindestens 50 Fliegen in meinem Zimmer umgebracht habe (Fenster war auf, Kühe direkt davor), hoffe ich, eine ruhige Nacht zu verbringen. Seit einiger Zeit bringe ich eine Fliegenpatsche mit auf meine Reisen. Sie bewährt sich immer wieder. Ich hoffe nur, dass mir nicht doch eines der Biester entwischt ist, um mich um den Schlaf zu bringen.

Ich habe auch im Gasthof zu Abend gegessen. Der Sohn des Besitzers -sein Name ist Bartek- gab mir einige Tipps für den morgigen Tag, an dem ich die Umgebung von Stanziki und Goldap erkunden möchte. Er wohnt in Suwalki, kennt sich aber in der Gegend gut aus.

Er ist sehr überrascht, als er von meinen Reiseplänen hört. Obwohl er noch nie in der Ukraine gewesen ist, hält er mein Vorhaben, mit meinem Wagen durch eben diese zu fahren, für ziemlich aussichtslos, da sehr gefährlich. Ich bin weiterhin gespannt.

Nach einem guten Abendbrot (Gulasch mit Kartoffelpfannkuchen, zuvor Rotebeete-Suppe und Salat) mit Bier habe ich mich noch mal auf den Weg zu den Viadukten gemacht. Sonnenuntergang bei Vollmond. Kläffende Hunde auf den Höfen. Im Garten eines Hauses sitzen markante Gestalten an einem Tisch bei Kerzenschein. Die Wodkaflasche macht einen Kreis und man unterhält sich lautstark.

 

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